Staatsvertrag
und Neutralität

Am 26. Oktober 1955 beschloss der Nationalrat das Bundesgesetz über die immerwährende Neutralität nach Schweizer Muster. Bis Oktober zogen die Besatzungsmächte ab, die russische Besatzungsmacht schon etwa einen Monat vor dem vereinbarten Endtermin, dem 25. Oktober 1955.

Die politische Zäsur des Jahres 1955 in Österreich ist deutlicher als die ökonomische. Der „Staatsvertrag“ brachte den Abzug der Besatzungsmächte und die volle politische Souveränität des Landes. Verbunden damit war die Neutralität zwischen den zwei großen Blöcken. Wirtschaftlich bedeutete der Staatsvertrag wohl einen psychologischen Einschnitt. In Wirklichkeit aber waren sowohl die politischen wie die ökonomischen Weichenstellungen schon früher erfolgt, mit der Einbindung Österreichs in das westliche Wirtschaftssystem, mit der Stabilisierung der Konsensdemokratie im Inneren und dem Weg ins marktwirtschaftliche Wirtschaftswunder. Die Neutralität brachte manche Vorteile in den wirtschaftlichen Beziehungen als Mittler zwischen den zwei großen politischen und wirtschaftlichen Blöcken. Die Nachteile der Lage am Rande des Eisernen Vorhangs und die damit verbundene einseitige Verlagerung der Handelsströme in Richtung Westen vermochte sie nicht auszugleichen.

Die Kosten der Freiheit
Die Kosten der Freiheit Österreichs bzw. der Involvierung des Landes bzw. seiner Bewohner in die nationalsozialistische Gewaltherrschaft und den Zweiten Weltkrieg lassen sich in Wirklichkeit nicht beziffern. Hans Seidel hat die Kosten, die Österreich aus der Besatzung, aus Reparationen und den finanziellen Auflagen des Staatsvertrags erwachsen sind, in Dollar zu Preisen von 1955 berechnet, mit zusammen etwa 1,8 Milliarden beziffert. Dem stellt er die Auslandshilfe in dieser Zeit mit etwa 1,9 Milliarden Dollar gegenüber.

Die "Kosten der Freiheit" (in Mio $ zu Preisen von 1955)
Belastungen insgesamt
Besatzungskosten1)
Reparationen2)
Kosten des Staatsvertrags3)
Auslandshilfe

1) An Besatzungskosten wurden nominell 7,3 Mrd. S gezahlt. Dazu kam eine Ablöse von 390 Mio. S für die "Banknotenleihe" der Sowjetunion von 600 Mio. RM aus dem Jahr 1945.
2) Davon entfielen etwa 350 Mio. $ auf die Demontagen im Jahr 1945 und 440 Mio. $ auf Reparationen aus der laufenden Produktion.
3) Davon entfielen 280 Mio. $ auf die Ablöse für die SMV und die USA-Betriebe (einnschließlich Warenlager). 16. Mio $ erhielten die westlichen Erdölfirmen als Entschädigung für den Verlust von Schürfrechten.

Quelle: Hans Seidel: Österreichs Wirtschaft und die Wirtschaftspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg, 2005.

Rückblick
Im Nachhinein ist der Staatsvertrag, was seine ökonomische Bedeutung angeht, eher als gering einzustufen. Die ökonomischen Lasten, die er mit sich brachte, erwiesen sich als viel leichter verkraftbar, als man gedacht hatte. Die Weichen für den ökonomischen Erfolg der österreichischen Nachkriegszeit waren schon sehr viel früher gestellt worden, in der grundsätzlichen Ausrichtung der politischen Landschaft auf eine Konsensdemokratie, in der starken Einbindung des Landes in den westeuropäisch- liberalen Entwicklungspfad mit Marshallplan und Westorientierung und in der Entscheidung für das soziale und marktwirtschaftliche System im so genannten Raab-Kamitz-Kurs ab 1953. Der Weg ins Wirtschaftswunder stand damit offen. Dem Staatsvertrag blieb die symbolische Funktion, mit einem mächtigen Hochgefühl eine Welle des Optimismus zu schaffen und damit de Konjunktur zu beflügeln. Allerdings waren mit den vermögensrechtlichen Regelungen des Staatsvertrages ebenso wie mit der Schillingeröffnungsbilanz auch zusätzliche Absicherungen verbunden.

Dass Österreichs wirtschaftliches Wachstum nach 1955 höher war als das der meisten Industriestaaten, mag mehrere Erklärungen zulassen: der Nachholeffekt gegenüber dem geringen Wachstum der ersten Jahrhunderthälfte, die ausländischen Hilfslieferungen, das vorteilhafte soziale Klima, das hohe Bildungsniveau und das hervorragende Innovationsklima. Es gab den breiten Konsens der Bevölkerung in Richtung Ausweitung der Produktion, der Einkommen, der Ersparnisse.

Verwendete Literatur siehe Bibliografie.
Redaktionelle Bearbeitung: Elisabeth Kreuzwieser, 2005